8. April 2012

Skurriles Schlitzerland

Gemütliche Idylle mit Tücken: Schlitz 
Wenn man die Hälfte seines Lebens beispielsweise im Ruhrgebiet verbracht hat, ist man in einer bestimmten Weise geprägt. Von den Menschen, die einen umgeben, vom Dialekt, den Gepflogenheiten und so weiter. Beschließt man dann irgendwann einmal, seinen Wohnsitz zu wechseln, wundert man sich bisweilen darüber, welche schrägen Blüten so manche Region hervorzubringen vermag.




Ungeschlagen: Die Landschaft

Ich bin ein ländlicher Typ, ich wusste immer schon, dass ich im Ruhrgebiet nicht ewig bleiben würde. Der Verkehr, die Menschenmengen und die doch immer noch etwas graue Anmutung des ganzen Terrains sind nichts für mich. Überhaupt: Als erklärter Misanthrop mit Hang zur Natur ist ein Standort mit hoher Bevölkerungsdichte und viel Asphalt das pure Gift. Und dann das Radfahren. Rennrad geht im Ruhrgebiet gar nicht. Bis man ampelfrei rollieren kann, vergehen vom Stadtkern aus 13 Kilometer und gefühlte vier Angriffe von Autofahrern. Kurzum: Das Leben auf dem Land macht irgendwie mehr Spaß - rein auf die Umgebung bezogen. Und natürlich gibt es hier jede Menge freundlicher Menschen. Aber - ja, natürlich gibts ein "Aber" - es gibt auch verhältnismäßig viele seltsame Phänomene, die man in der Großstadt wahrscheinlich mit dem Prädikat "supercool" zum Kult machen könnte, die aber hier als normal angesehen werden und alles andere als supercool gemeint sind. Bei mir lösen sie eher das Bedürfnis aus, eine gewisse skeptische Distanz zu halten. So sind die Menschen zwar tendenziell umgänglich, regen sich aber über einfache Dinge schnell und heftigst auf. Wie zum Beispiel über eine fehlende Klingel am Fahrrad. Und die Menschen sind kleiner als anderswo, dafür aber etwas breiter. Ich rede natürlich von den reinrassig Einheimischen und auch nur in der Tendenz. Das mit dem Aufregen unterscheidet sie übrigens von den Hobbits aus Herr der Ringe, zu denen, optisch betrachtet, ein Vergleich naheliegt. Hobbits sind als solche eher gemächlich und selten aus der Ruhe zu bringen. Mit den Schlitzern haben sie wiederum gemein, dass sie gerne feiern und bei jeder sich bietenden Gelegenheit große Mengen Bier trinken. Ich selbst bin übrigens halber echter Schlitzer und tendiere daher ebenfalls zu solchen Neigungen und obendrein einer hobbitesken Figur.

Fühlt sich wie ein Popstar: Einheimischer Honk
Der junge Einheimische beschäftigt sich vornehmlich mit seinem fahrbaren Untersatz, sofern vorhanden. Dieser genügt ihm nicht im Werkszustand, nein, er muss in jedem Fall nachbearbeitet werden. Individualität spielt hier in manchen Dingen nämlich eine gewichtige Rolle. Neben einer sportlichen Optik ist das Ziel ein satter Klang, der sich einerseits aus der monströsen Auspuffanlage lautstark in die Beschaulichkeit der Schlitzer Straßen ergießt, andererseits gehört es zur Pflicht, dass das Vehikel beim Fahren rhythmisch wummert. Was zunächst an einen klopfenden Motor oder eine lose Radmutter erinnert, entpuppt sich bei genauerem Hinhören als dumpfer Bass der im Cockpit bis zum Anschlag aufgedrehten Beschallungsanlage. Das Phänomen kennt man aus dem Internet: das so genannte "sharing". Alles wird geteilt: Bildchen, Filmchen, Links, Rechts, einfach alles. So auch hier in Schlitz. Man nennt das dann Bass-Sharing. Das Prinzip dabei: Wenn ich mir schon selbst das Resthirn rauswummere, sollt ihr das zumindest alle mitkriegen. Der Verursacher ist dabei verpflichtet, sich als solcher kenntlich zu machen. Dies geschieht durch Tragen einer Schirmmütze mit monströsem Baldachin, damit auch ältere schwerhörige Menschen, von denen es hier einige gibt, von weitem visuell vorgewarnt werden. Denn das Überqueren der Straße erfordert bei der Spezies der fahrenden Kappenschiefträger ein anderes Timing. Da heißt es schnell sein oder besser warten. Denn auch wenn das Fahrzeug des Honks zwar außer Optik und Lärm nichts hergibt, tritt dieser doch beharrlich aufs Gas, und zwar möglichst bis zum Bodenblech und vornehmlich innerhalb geschlossener Ortschaften.

Kein Bild aus den 70ern. Könnte aber sein.

A propos Ortschaft: In der Nachbargemeinde ist jeden Freitag Disco. Sensationell und seit 30 Jahren unverändert. Auch von der Musik. Und natürlich von den Besuchern. Diese haben sich nicht etwa, wie zunächst  vermutet, für den Abend im Retro-Look gestylt. Nein sie sind immer so. Die, die damals schon da waren, sind einfach unverändert sitzen geblieben und die, die jünger sind, haben sich dazugesetzt.





Gelsenkirchner Barock und der Orient in Osthessen


Dubai-Mikes Goldbude. Eine Nacht zahlen,
1001 Nacht bekommen. Ein faires Angebot.
Beschließt man, in Schlitz zu übernachten - oder ist man gar dazu verpflichtet - sollte man das mit vollem Magen tun. Denn wer annimmt, dass man hier ein Restaurant findet, in dem sich nicht nur gediegen und schmackhaft speisen, sondern auch noch in freundlichem Ambiente für ein zwei Stunden verweilen lässt, der irrt. Und zwar zunächst rat- und orientierlungslos durch den Ort, bevor er der Erkenntnis anheim fällt, dass es hier wirklich nichts zu Essen gibt und man gut daran tut, auf der Stelle das Schlaflager aufzusuchen, um ein möglicherweise immer quälender werdendes Hungergefühl durch vorzeitiges Verlassen des Wachzustandes zu unterdrücken. Geht es jedoch einfach nur um die Auswahl der Übernachtungsmöglichkeit, so tun sich deutlich mehr Möglichkeiten auf. Meist jedoch Pensionen, so genannte Hotels oder Ferienwohnungen, die so aussehen, als seien sie eher aus einer Notlage heraus, denn aus dem Ehrgeiz entstanden, eine ernsthafte und komfortable Übernachtungsmöglichkeit zu schaffen. In den meisten Unterkünften stehen Möbel, die aus einem vorigen Leben stammen müssen. Als hätte ihnen die Antwort auf die Frage "Sperrmüll oder Ferienwohnung?" das Leben gerettet. Es gibt jedoch in einer Herberge ein einziges Appartement, da ist alles anders. Das Haus gehört Dubai-Mike. Dubai-Mike wohnt, wie der Name schon sagt, in Dubai. Dort betreibt er einen Schönheitssalon, der bei diversen Scheichs äußerst beliebt sein soll. Oft komme es vor, dass vor dem Etablissement eine Limousine hält, um einige weibliche Angestellte abzuholen und wenige Stunden später vor Dubai-Mikes Geschäft wieder auszuspucken, die Taschen voll mit Geldscheinen. In der Zeit dazwischen habe sich der Scheich "die Nägel machen lassen". Dubai-Mike gehts gut. So gut, dass er hier in Schlitz ein paar Häuser gekauft hat, um sie zum Teil mit Ferienwohnungen zu bestücken. In einer davon scheint er seinen persönlichen Traum umgesetzt zu haben. Andere behaupten, mit ihm seien einfach die Araber durchgegangen. Womöglich trifft beides zu. Betritt man das Haus, sieht alles zunächst ganz normal aus. Die Zimmer sind im üblichen Standard gehalten. Einfache Möbel, Warmwasser. Doch dann tut sich der Orient auf. Ein Apartement ist einfach hinreißend kitschig und mutet an, als hätte man in der sich im Erdgeschoss befindlichen Kneipe die bezaubernde Jeanny freigesetzt, welche sich alsdann ein standesgemäßes Nachtlager zurechtgemacht hätte. Wer also in Schlitz übernachten will - oder muss - und Bescheid weiß, frage im Braustübchen bei Horst nach der Orient-Dependance. Diese kostet übrigens nicht mehr als die anderen Zimmer auch. 

Mit einer guten Therapie geht vieles leichter
Man könnte noch viel mehr berichten über die Schlitzer und ihre seltsamen Marotten. Unterm Strick... äh Strich bleibt die Tatsache, dass die meisten wirklich nett sind. Mit manchen Gegebenheiten muss man sich nun mal abfinden, während man mit manchen als halber Ruhri vielleicht nie klarkommen wird. Jedes Individuum muss eben seinen eigenen Weg finden, mit den Dingen des Lebens umzugehen. Das gilt auch - und im Besonderen - für Schlitz.

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